Verband Deutscher Lehrkräfte im Ausland

200 Jahre deutsche Einwanderung in Brasilien

Ein Überblick von Beat Richard Meier

Beim diesjährigen Jubiläum der deutschen Einwanderung vor 200 Jahren, verteilten sich die Gedenkanlässe auf das ganze Jahr und überall, wo Deutsche ihre kulturellen und wirtschaftlichen Spuren in Brasilien hinterlassen haben, durfte gefeiert werden und selbst in der Bundesrepublik Deutschland besann man sich an einigen Orten dieser Begebenheit. Vor hundert Jahren war dies noch ganz anders. Da stand nicht das Wort «Einwanderung» im Zentrum, sondern das «Deutschtum» und diesem galten die Erinnerungen. Zudem beschränkten diese sich auf den südlichsten Teilstaat Brasiliens, auf Rio Grande do Sul. Davon erzählt dieses Buch:

Das Buch erschien ohne Nennung von Autoren, doch findet sich in der Zeitung A FEDERAÇÃO, Porto Alegre, vom 11.08.1921, Seite 5, Spalte 2, eine Notiz, in der die Herren Kadletz, Amstad und Gottschald bestimmt wurden, sich einer solchen Publikation anzunehmen. Theodor Kadletz (1893-1949) war Österreicher, Padre Theodor Amstad (1851-1938) ein Schweizer Jesuit und Eduard Karl Gottschald (1882-1964) Deutscher, evangelischer Pfarrer. Scheint mir eine glückliche Auswahl gewesen zu sein, denn als «deutsche» Immigranten zählten oft auch Österreicher und Deutschschweizer. Zudem gilt das 200 Jahre Jubiläum allen Einwanderern aus deutschsprachigen Ländern.
Die Festlichkeiten am 25. Juli 1924 standen stark unter historischem Gesichtspunkt und schon am 16.07. wurde der 25. zum städtischen Feiertag erklärt. Eine weitere Feier fand in der zweiten Septemberhälfte statt. Da wurden Festreden gehalten, Ausstellungen besucht und vor allem auch das Jahrhundert-Denkmal am 20.09.1924 eingeweiht.

São Leopoldos Jahrhundert-Denkmal

Im Kalender für die Deutschen in Brasilien 1925, wird auf Seite 32 über das vergangene Jubiläum reflektiert:

Im selben Kalender, aber für das Jahr 1932, ist der 25. Juli nun als Gedenktag, zur Erinnerung an die Einwanderung der ersten Deutschen (1824) aufgeführt, und zwar für ganz Rio Grande do Sul. Und im Paulus-Blatt, einer katholischen Monatsschrift, sind in der Juli-Ausgabe des Jahres 1935 Gedenkmarken abgebildet, die über Rio Grande do Sul hinausgehen:

Dabei wird mit dem 25. Juli Gemeinschaft über die regionalen Staatsgrenzen verbunden und der Erstgründungen gedacht. Auch der Ausdruck «Tag des Kolonisten» beginnt sich zu festigen.

Am 05.09.1968 erklärte das Bundesgesetz Nr. 5.496 den 25. Juli jedes Jahres zum Tag des Kolonisten und gleichzeitig des Lastwagenfahrers, der ja die landwirtschaftlichen Produkte im Land verteilt. Nun sind also alle gemeint, nicht nur die «Deutschen». Und mit dem Gesetz Nr. 12.394 vom 04.03.2011 wurde der Gemeinde São Leopoldo der Titel «Wiege der deutschen Kolonialisierung in Brasilien» verliehen. Und an diesen «Brandherd», wo das Begeisterungsfeuer erstmals 1924 so richtig ausgebrochen ist, wollen wir nun zurückkehren.

Ernst Zeuner (1895-1967) malte die «Ankunft der ersten deutschen Kolonisten in der damaligen Provinz Rio Grande do Sul».

Am 25. Juli 1824 trafen 39 deutsche Kolonisten im Gebiet der Feitoria do Linho Cânhamo, dem heutigen São Leopoldo ein. Fast alle waren protestantischer Religion. Ihre Reise hatten diese «ersten Deutschen» am 24.03.1824 mit dem Schiff Anna Louise in Hamburg begonnen. In Rio de Janeiro sind sie am 04.06.1824 eingetroffen. Insgesamt wurden 327 Deutsche mit diesem Schiff transportiert: Baron Kettler, Infanterie-Hauptmann, 269 Männer, die sich zum Militärdienst anboten, sowie 16 Frauen und 41 Kinder, wie die Zeitung Diário de Rio do Janeiro vom 08.06.1824 festhält.

Erst am 23.06.1824 ging die Reise für 9 Männer, 8 Frauen, 20 Kinder, eine Stieftochter sowie einen Adoptivsohn mit dem Küstenschiff Protector weiter nach Porto Alegre, wo sie am 18.07.1824 eintrafen. Nach fünf Tagen Aufenthalt in dieser Provinzhauptstadt wurden sie an ihren Bestimmungsort gebracht. Wohin die andern 8 Frauen und 21 Kindern transportiert wurden, die auf demselben Schiff den Atlantik überquerten, wurde zur historischen Nebensache.

Die Beschützerin der Deutschen, Kaiserin Maria Leopoldina, verstarb Ende 1826. Dom Pedro heiratete 1829 Amélie von Leuchtenberg, eine bayerische Prinzessin, doch 1830 blieb weitere finanzielle Unterstützung für die Kolonisten aus und schon 1831 dankte Kaiser Dom Pedro I. ab und suchte in Portugal sein Heil. Er starb bereits drei Jahre später. So endete die erste grosse Einwanderungswelle nach knapp acht Jahren. Doch was «lockte» Deutsche eigentlich hierher?

Portugal und Brasilien sind historisch und sprachlich auf ewig miteinander verbunden. Brasilien (1500 „entdeckt“) wurde als Kolonie ausgebeutet. Doch als 1807/8 König (eigentlich Prinzregent) Johann VI. mit seinem Hof vor Napoleons Truppen von Lissabon über den Atlantik nach Salvador und schlussendlich Rio de Janeiro flüchtete, begann sich das zu ändern. Er öffnete nun die bis dahin geschlossenen Häfen für «befreundete» Nationen. 1815 im Zusammenhang mit der Neuverteilung Europas am Wiener Kongress wurde das Königreich Portugal, Brasilien und den Algarven ausgerufen. Am 13. Mai 1817 wurde Maria Leopoldina (1797-1826), Tochter des Kaiser Franz I. von Österreich, in Wien mit Pedro (1798-1834), dem ältesten Sohn des portugiesischen Königs verheiratet. Nach dreimonatiger Seereise traf Leopoldina Anfangs November in Rio de Janeiro ein, wo die Trauung der beiden Königskinder ihren gebührenden Abschluss fand.
König João VI. kontraktierte 1819 via Sebastien-Nicolas Gachet etwas mehr als 2000 Schweizer, darunter um 300 Heimatlose. Die beschwerliche Reise kostete um die 400 Menschenleben. Die Ankömmlinge wurden im Hochland Rio de Janeiros angesiedelt. Nova Friburgo wurde diese Kolonie genannt. Der König entschloss sich bald darauf mit seinem Hofstaat nach Lissabon zurückzukehren. Als Stellvertreter liess er seinen Sohn Pedro zurück, der aber nur ein Jahr später, am 7. September 1822, Brasiliens Unabhängigkeit ausrief und sich zum Imperador Dom Pedro I. krönte, womit Maria Leopoldina nun Landesmutter wurde. Der ihr nahestehende deutsche Arzt, Dr. Georg Anton Schäffer (1779-1836) wurde nach Europa geschickt, um Kolonisten für Brasilien zu werben, die sich aber auch für den Militärdienst eignen sollten. Er verfasste in seiner alten Heimat auch ein Buch, das Interessierten Brasilien näherbringt und im 13. Abschnitt (Seiten 400-407) auch der Auswanderung gewidmet ist. Es wurde im Januar 1824 im damals dänischen Altona gedruckt und ist 464 Seiten dick. Schäffer widmet das Buch seiner Majestät, Maria Leopoldine, Kaiserin von Brasilien.

Quelle: https://archive.org/details/brasilienalsunab00scha/pag/n5/mode/2up

Schäffers Name ist daher ganz eng mit dem Schicksal der ersten Einwanderungswelle verbunden. Die bisherige Geschichtsschreibung geht (zu) hart mit ihm zu Gericht. Die deutschsprachige Bevölkerung Europas war auf mehrere Länder verteilt, wie heute immer noch, doch das heutige Deutschland bestand damals aus vielen Ländereien, großen, kleinen und winzigen sowie weiterhin religiöser Spaltung. Den Bauern fehlte Land, um es unter ihrem vielzähligen Nachwuchs verteilen zu können, ein Überleben war so kaum möglich. Zudem führten Missernten zu Hunger, höheren Preisen und Armut. Auch Steuern waren damals schon eine Last. Da erschien Auswanderung als willkommener Hoffnungsschimmer. Aber eben, erstens kommt es anders und zweitens als man will. Da gilt es seinen Mann oder seine Frau zu stehen. Doch damals bedeutete Auswanderung Abschied von der Heimat, und zwar für immer. Von Goethe soll stammen: Das Schicksal ist ein Netz, in das wir selber unsere Fäden ziehen. Bleiben wir kurz bei Goethe und lassen Brasilien auf ihn wirken.

Wenn also selbst Goethe von Schilderungen über Brasilien angetan war, wie sollten da «unsere» Auswanderer nicht auch davon träumen und so den Schritt ins Ungewisse wagen? Doch musste vor dem «Traumland» die Überquerung des Atlantiks gelingen. Das war keine feuchtfröhliche Kreuzfahrt. Ein solches Borddokument habe ich dieses Jahr im unendlichen Meer des Internets gefunden. Dadurch war es möglich, die Route genau zu verfolgen und die schlimmsten Ereignisse darin einzuzeichnen. Es handelt sich dabei um ein Schiff, das zur zweiten Einwanderungswelle (1845-1865) gehört. Jeder Punkt steht für einen Todesfall.

Besonders wertvoll ist dieser Fund, weil auch eine Gruppe Hunsrückler aus Löffelscheidt auf diesem Schiff waren. Einer von ihnen hat über die ganze Auswanderungsroute und die Erlebnisse eine Chronik verfasst (vgl. die Darstellung von Beat Richard Meier, Jonas Bruch und Toni Jochem: Um grande achado: a documentação de bordo do brigue francês Virginie (1846) vom 14.03.2024 in páginas-da-colonização) http://tonijochem.com.br/artigos-paginas-da-colonizacao/midias/imagens/58.-Um-grande-achado—a-documenta%C3%A7%C3%A3o-de-bordo-do-brigue-franc%C3%AAs-Virginie-(1846).17114783831.pdf

Mathias Schmitz, der Autor der Chronik, suchte im Dezember 1846 zweimal den Dom Pedro II. auf. Der Kaiser wie der Kolonist waren Altersgenossen, gerade mal 20 Jahre alt. Einer suchte für seine «Reisegruppe» eine neue Heimat, der andere nach den besten Lösungen für ein ganzes Land. Schlussendlich kamen die Hunsrückler nach Santa Catarina und bildeten 1847 die Kolonie «Santa Isabel», und dem Ort ihrer Niederlassungen gaben sie den Namen Löffelscheidt, welch herrliches Heimatgefühl.

In diesem Jahr fanden und finden «Auswanderfestspiele» im Hunsrück statt. «Auf ins Paradies» bringen die Theatervereine der Verbandsgemeinde Simmern-Rheinböllen gemeinsam auf drei Bühnen zur Schau, worin versucht wird, die tiefen Beweggründe der Menschen nachzuzeichnen. Auch Dom Pedro I. und die Kaiserin Leopoldine werden kurz «auferstehen». Festlichkeiten, Ausstellungen, Konzerte und Vorträge auf beiden Seiten des Atlantiks. Und dennoch wurde die Freude vielfach weggeschwemmt, durch die Jahrhundertüberschwemmungen im Mai dieses Jahres (2024) in Südbrasilien mit vielen Toten.

Zum Autor

Beat Richard Meier (*1950) arbeitete in den Bereichen: Handel, Polizei und Bildung. Zuletzt unterrichtete er 31 Jahre lang an der Schweizerschule in São Paulo und hatte so auch viel Kontakt zu deutschen Lehrpersonen durch gemeinsame Weiterbildungskurse und Fussballspielen (in jüngeren Jahren). Hobbymässig recherchierte er in der Freizeit Brasiliens Geschichte, mit Schwerpunkt auf deutschsprachiger Einwanderung. Seit vier Jahren wohnt er wieder in der Schweiz. Dank digitaler Welt bestätigt er den Spruch: Brasilien ist nicht weit von hier!

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